Chatiquette - Ratgeber für die virtuelle Welt
Ist man eine Frau und hat man einen Nick gewählt, der über die passive Neigung keinen Zweifel lässt, muss man damit rechnen, dass man überfallen wird, je nach Chattechnik mit Flüsterattacken oder so genannten Dias, kurz für Dialoge. In eher unpersönlichen Chats mit Dutzenden von Teilnehmern treiben sich auch solche Leute herum, die es speziell auf weibliche passive Opfer abgesehen haben. Die ersten Fragen lautet meist "wie alt?" und "woher?" und, falls der Chatter nicht lesen kann, auch noch "w oder m?" (soll heißen: weiblich oder männlich) und "dom oder dev?" (= dominant oder devot). Lässt man sich auf eine solche Unterhaltung ein, sollte man recht schnell dahinter kommen, dass man es zu 99% mit einem neugierigen Spanner oder Fake zu tun hat. So einer stellt eine Menge dummer Fragen und weiter nichts. Ein Chatter, der sich ernsthaft unterhalten möchte, wird solche Fragen nicht stellen oder sie zumindest anders formulieren.
Eindeutig männliche passive Chatter dürften solche Attacken eher selten erleben. Aus einem einfachen Grund: Frauen fragen solchen Blödsinn nicht.
Es gibt auch das Gegenteil: die Nichtbeachtung. Solche kommt vorzugsweise in Chats vor, die immer von den gleichen Chattern besucht werden, welche nach einiger Zeit eine feste Clique bilden. Diese Leute kennen sich meist persönlich und treffen sich auch im realen Leben. Als Neuling, auch Newbie genannt, auf eine solche Gruppe zu stoßen, bringt eine neue Erfahrung mit sich: Man erlebt, wie es ist, sich unsichtbar zu fühlen.
Sagt man in so einem Chat freundlich "guten Tag", muss man damit rechnen, keine Antwort zu bekommen, ebenso auf Fragen den Chat betreffend. Sicherlich haben ebendiese Leute ebendiese Fragen schon etliche Male vorher beantwortet. Aber dafür kann man ja nichts. Es dauert eine Weile, bis man in einem solchen Chat Fuß gefasst hat. Da hilft nur Geduld und Mitreden - falls man diese Geduld aufbringt und Gelegenheit zum Mitreden hat. Wird sich nur über private Treffen oder vergangene, exklusive Veranstaltungen unterhalten, dürfte sich das eher schwierig gestalten. Solche Chatter dürfen sich allerdings auch nicht wundern, wenn ihr Chat irgendwann an Inzucht zugrunde geht.
Vielleicht liegt es aber auch an einem selber, dass man in einem Chat nicht so richtig Tritt fasst. Wie man in den Wald hineinruft, schallt es bekanntlich heraus. Einen Chat mit einem "Hi" zu betreten und dann schweigend abzuwarten, dass die Menge den Neuankömmling freudig begrüßt, ist ebenso unsinnig wie als ersten Satz "Suche Dom-Frau aus Köln-Kalk" oder "Möchte jemand mich online erziehen?" in den Raum zu werfen und dann die nächste scheinbar passende Frau anzubaggern, die nicht bei drei auf dem Baum ist. Gut, es mag Chats geben, in denen so miteinander geredet wird. Die ernsthafteren SM-Chats legen auf gepflegte Unterhaltung wert.
Man sollte sich daher nicht wundern, dass erstaunlich wenig über "es" geredet wird. Zwar wird hin und wieder eine Diskussion angestoßen, während man sich über das Für und Wider, Sinn oder Unsinn einer bestimmten Thematik auseinandersetzt, und stellt man eine ernsthafte Frage, wird sie sicher auch beantwortet, wenn die richtigen Leute dafür anwesend sind. Wenn man nun ausgerechnet wissen will, was japanisches Bondage ist, und es ist gerade niemand im Raum, der es weiß, hat man einfach Pech gehabt.
Im Allgemeinen wird eher über dies und das geredet. Man genießt einfach die Tatsache, dass man unter seinesgleichen ist, ohne dass man ständig mit SM-Floskeln herumwerfen muss, um zu beweisen, dass man SMler ist. Solche werden eher scherzhaft in den Raum geworfen - hier kann man es ja erlauben. Ansonsten tauscht man sich aus, wie in anderen Themen-Chats auch - man erzählt über Partys, weist auf Stammtische hin, klatscht, tratscht, flirtet und betreibt Smalltalk.
Für intimere Gespräche nutzt man die Technik - oben erwähnte Dias, sofern vorhanden, stören niemanden. Allerdings sollte man mit der Herausgabe der entsprechenden Nummern bzw. Kennungen vorsichtig sein - in ein Profil gehören sie ebenso wenig wie Telefonnummern. Manche Chats haben ein chatinternes Mailsystem, sodass man darauf verzichten kann, seine Mail-Adresse bekannt zu geben, möchte man nicht von Spam-Mails überflutet werden.
Die Höflichkeit gebietet es, sich im Chat in den HG (= Hintergrund) oder ganz abzumelden, wenn man außerhalb chattet. Es ist etwas nervend, wenn die Hälfte der scheinbar anwesenden Leute keinen Ton mehr sagt.
Für viele SMler ist "ihr" Chat ihre virtuelle Stammkneipe. Hier kennen sie sich aus, hier treffen sie Freunde, hier können sie sich so geben, wie sie es im Alltag eher selten wagen. Dass neue Chatter nicht unbedingt mit offenen Armen willkommen geheißen werden, sollte man hinnehmen. In einer Kneipe darf man sich auch nicht gleich an den Stammtisch setzen. Passt man sich der Redensweise und Chatiquette an, bleibt man am Ball und kommt so oft wie möglich wieder, wird man bald in der Familie der Stammchatter aufgenommen - und der Weg ist frei, reale Freundschaften zu schließen und lebendige SMler zu treffen.