Die Geschichte von der Moral

Wenn man sein stilles Kämmerlein verlässt und beginnt, sich mit anderen SMlern zu beschäftigen, wenn man chattet oder wenn man Partys besucht, stellt man bald fest, dass alte Moralvorstellungen nicht mehr zu gelten scheinen: Mann und Frau bilden ein Paar und haben einander treu zu sein, was in meinem Bett passiert, geht niemanden etwas an, Sex findet nicht in der Öffentlichkeit statt. Alles, was man über Sittlichkeit und Anstand gelernt hat, wird über den Haufen geworfen - da treibt es ein Mann mit mehreren Frauen, gleichzeitig und mit gegenseitigem Wissen, Frauen erzählen offen von ihren wechselnden Geschlechtspartnern, man hat Spielbeziehungen, obwohl man verheiratet ist, man beschreibt genauestens, was man wie und warum mit seinen Partnern tut, und man vögelt auf Partys vor allen Leuten, ganz abgesehen davon, dass man sich nackt hinstellt und verhauen lässt. Sodom und Gomorrha.

Man würde sich am liebsten entsetzt abwenden - mit solchem Betragen hat man nichts zu tun, bloß weil man SMler ist - nur leider wird einem von aller Welt erzählt, man habe sich als SMler so zu verhalten. In dieser Szene ist das, was man vorher als unmoralisch betrachtet hat, ganz normal. Sagen sie.

Dass es mit der vielgepriesenen Toleranz der SMler nicht weit her ist, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Man selbst lebt das einzig wahre BDSM, während alle anderen nur spielen oder jedenfalls irgendetwas falsch machen. Nur zu gern versucht man, sein ungläubiges Gegenüber von der einzig richtigen Lebensweise - der eigenen - zu überzeugen.

Am hartnäckigsten sind wohl die Verfechter der Polygamie ["Vielehe"], wie immer diese im Einzelfall aussehen mag. Zum einen darf ein Dom sich selbstverständlich so viel Subs nehmen, wie er wünscht (wer sagt das?), zum anderen lebt man ja gern seine bisexuelle Neigung aus (dumm, wenn man keine hat), so ist es toll, wenn der Herr noch eine Frau dazu nimmt, und schließlich ist jeder für alles offen und man kann über alles reden, also warum sollte jemand seinen Kink, sein Kopfkino verleugnen, wenn man fröhlich fremdvögeln darf?


Und dann die verschiedenen Praktiken und Methoden, über die berichtet wird. Höher, schneller, weiter - die Olympischen Spiele sind ein Kindergeburtstag dagegen. Man fistet selbstverständlich ohne Gleitmittel, und wenn, dann benutzt man Rheumasalbe, Sub schläft angekettet auf der Fußmatte neben Doms Bett, Sub bittet um Erlaubnis, wenn er aufs Klo gehen will, und die Striemen von der meterlangen Bullwhip, die Dom aus dem Effeff beherrscht, sind noch nach sechs Wochen zu sehen. Selbst wenn es wahr wäre, was da berichtet wird  - über negative Folgen und schlechte Gefühle wird selten erzählt. Das wäre ja peinlich. Schließlich ist man ein wahrer SMler und hat alles im Griff.


So schwankt man als Neuling zwischen den Extremen - "das muss ich jetzt auch wollen, sonst stimmt mit mir was nicht" und "die sind doch alle krank, bloß ich nicht". Es braucht eine Weile, bis man begreift, dass all das, was man da zu hören bekommt, in Rubriken einzuordnen ist - "heiße Luft", "nicht meins" und "später vielleicht - viel später".

Du musst dich nicht prüde oder verklemmt fühlen, nur weil du einen Partner für dich haben möchtest oder bestimmte Praktiken oder Lebensweisen einfach nicht in Frage kommen. Wenn schon der Gedanke an Dinge, von denen andere behaupten, dass sie selbstverständlich seien, dich abschreckt oder Abwehr in dir weckt, dann denk nicht länger darüber nach. Du brauchst nicht das ganze Sub-Dom-Sado-Maso-Lack-Leder-Paket zu kaufen, wenn du nur einen kleinen Teil wirklich haben möchtest. Du musst überhaupt nichts - nicht deine Moralvorstellungen ablegen und nicht hemmungslos werden, wenn du es nicht sein willst.

Sub bist du trotzdem.


Als Moral [lat. morales = sittliche Bräuche] bezeichnet man den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile und Institutionen. Moral beschreibt ein vorhandenes Verhalten in einer Gemeinschaft und umfasst alle Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden. In Form eines Katalogs materialer Norm- und Wertvorstellungen regelt sie die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Gemeinschaft und bestimmt deren Pflichten.

Sodom und Gomorrha
Im Alten Testament zwei Städte am Toten Meer, die nach 1. Mose 19 wegen der Sündhaftigkeit ihrer Bewohner durch einen Feuer- und Schwefelregen vernichtet wurden; Synonym für lasterhafte Zustände.